- Meine Damen und Herren,
- ich freue mich, heute Abend einige Worte zur Arbeit von M HH zu sagen, und zu ihrer Ausstellung, die den Auftakt des Jubiläumsprogramms bildet, anlässlich des 10jährigen Bestehens des Medienzentrums. Die Ausstellung, deren Thema einen engen Bezug zum Ort, zur Kinowelt hat, nennt M HH: "Casting. Die unentdeckten Stars"
- "Deutschland sucht den Superstar" lautet der Titel einer Sendung, die seit einigen Monaten im Fernsehen läuft, in der neue Talente um diese Auszeichnung kämpfen, "Superstars von morgen" werden auch in Bremen gecastet, wie der Weser Kurier vor gut drei Wochen berichete.
- Ein Trend unserer Zeit scheint plötzlich zu sein, was in allen darstellenden Kunstbereichen schon lange Usus ist: Casting.
- Casting bedeutet ursprünglich "eine Rolle besetzen". So nennt man heute aber auch das Vorsingen, Vorspielen, Vortanzen von meist jungen Leuten, die als Sänger, Schauspieler oder Tänzer Karriere machen wollen und sich mit ihrem Auftritt bewerben.
- Casting bedeutet also das Aufspüren von Begabungen, das Entdecken von Potential, die Hoffnung, Erwartungen erfüllt zu sehen, für die es zunächst Anzeichen aber keine Garantien gibt.
- Casting ist für die eine Seite eine spekulative Investition in die Zukunft, für die andere ist es der Traum vom grossen Durchbruch und die Sehnsucht nach Ruhm, Reichtum und Selbstverwirklichung.
- M HHs bildnerisches Projekt "Casting" gibt es schon viel länger als den aktuellen Boom im Fernsehen. Die Welt der Stars, der grossen, die voll im Rampenlicht standen, wie Marylin Monroe oder Andy Warhol, aber auch derjenigen, die eher im Hintergrund und vor allem in Insider-Kreisen einen Namen hatten, wie Nico oder Kiki de Montparnasse, hat M HH schon lange in unterschiedlichen Foto- oder Videoarbeiten einbezogen. Vor allem deren Aura, der Mythos um sie herum, aber auch die Person hinter der Maske der Selbstdarstellung interessierte sie. Die Wechselwirkung von Schein und Sein, das Potential an Projektion, das sie bieten.
- M HH hat sich also schon vor Jahren mit Fiktion beschäftigt, und mit möglichen Realitäten und das nicht nur mit den Mitteln der Fotografie oder des Videos. So schrieb sie 1996 die Erzählung "Der Tag, an dem Marylin Monroe in Bremen war", das sie als Künstlerbuch mit Zeichnungen ergänzte.
- Oder sie erfand mini-Kurzgeschichten, die sie auf dem weissen Rand von alten, vorgefundenen Fotos schrieb - wobei die zufällige Randbreite jeweils die Länge der Geschichte bestimmte, so bei verschiedenen Disketten-Serien wie "Couples", "Diary" oder "Out of time", alle 1997 entstanden.
- Sogar das einzelne Wort erzählt bei M HH Geschichten, sie wählt es jeweils wegen seines Potentials an Mehrfachdeutungen aus. Es legt nicht fest, im Gegenteil, es eröffnet Assoziationsmöglichkeiten und fordert still die Betrachter auf, nach solchen zu suchen. So z.B. das Wort "Irrstern", ein Fund aus einem Gedicht Hölderlins, das in riesigen Lettern in einem überdimensionalen Fotorahmen zu lesen steht, auf dem Gelände des Zentralkrankenhauses Ost, ein Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus in der Psychiatrie.
- Geschichten erfunden hat M HH schon als Kind. Und zwar nicht bloss als Idee, nein, sie hat sich sozusagen ein Drehbuch vorgestellt und Personen, die darin vorkommen. Und hat sie alle selbst gespielt, immer mit wechselnder Stimme, wie im Begleittext zu dieser Ausstellung zu lesen ist. Auf dem Weg zur Grossmutter entstand so eine Geschichte als "work in progress", mit offenem Ende. Und je näher das Haus der Grossmutter kam, desto dringlicher musste ein Ende für die Geschichte gefunden werden. Die noch zu gehende Strecke bestimmte somit den Verlauf der Geschichte.
- Eine ähnliche Methode übrigens, wie sie M HH viele Jahre später auf den vorgefundenen Fotografien angewandt hat - wie schon gesagt, bestimmte dort die Grösse des weissen Randes den Verlauf der fiktiven Geschichte, die ein Ende finden musste, solange noch Platz zum Schreiben war.
- Die Idee zu einer Geschichte, der Entwurf eines Drehbuch, besteht aus Einzelteilen, aus Versatzstücken, die in der einen oder anderen Art zusammengebracht werden können. Diese Versatzstücke sind es in erster Linie, auf die M HH als Erwachsene ihre Aufmerksamkeit richtet. Personen, Orte, Dinge aus denen eine fiktive Erzählung bestehen könnte. Da sie meistens über längere Zeit parallel an mehreren Projekten arbeitet, entstand im Lauf der letzten 5-6 Jahre auch die Casting-Serie parallel zu anderen.
- Im Unterschied jedoch zu den gleichzeitig sich entwickelnden Reihen "Bel ami" oder "Beautiful famous", in denen vorwiegend Berühmtheiten wie Modigliani und Rilke oder Meret Oppenheim und Paula Modersohn-Becker als fotografische Vorlage ihrer Fotoarbeiten dienen, geht es bei Casting, wie im richtigen Leben, um unbekannte, noch zu entdeckende Stars.
- M HH porträtiert dafür meist jüngere Leute, deren Gesichter ihr als sozusagen "idealtypische" Physiognomien besonders geeignet scheinen, um als Projektionsflächen für Charaktere, Eigenschaften oder Empfindungen zu dienen. Das Motiv der Projektion taucht natürlich im Falle eines Filmes, in des Wortes doppeltem Sinn auf: als psychologische Übertragung des Betrachters auf die Darsteller und als technischer Vorgang der Projektion auf die Leinwand.
- Die rund 30 Porträts dieser Ausstellung sind in unwirklichem Blau eingetaucht, sind unscharf und verschwommen. Scharfe Konturen sollen sie ja nur entsprechend einer bestimmten Rolle in einem Drehbuch bekommen - die Person erscheint in ihren Bildern sozusagen als Prototyp, als noch zu gestaltende Persönlichkeit, deren Identität erst durch den Regisseur definitive Gestalt annehmen wird.
- Unscharfe Fotos betrachtet man in der Regel genauer und länger als scharfe, deutliche Bilder. Die Neugier auf das nicht-Festgelegte, nicht-Offensichtliche, das vielleicht noch Verborgene, noch zu entdeckende, erklären dieses Verhalten und machen den Reiz solcher Bilder aus.
- So sind auch die anderen "Versatzstücke" ihres fiktiven Drehbuchs, die sog. "Locations", die Orte also, in denen der Film spielen könnte, in der Regel ebensowenig deutliche Aufnahmen. Es handelt sich dabei durchweg um Landschaftsbilder und Ortsaufnahmen aus Ostfriesland, der Heimat der Künstlerin. "Mud Affairs" - Schlammschlachten könnte der Titel des Films sein, meint M HH.
- Wenn man die Orte kennt, kann man sie manchmal wieder erkennen. In künstlichem Dämmerlicht atmosphärisch eingefangen, könnten sie aber genauso einer anderen norddeutschen Landschaft entstammen. So wirken sie eher als Sinnbilder oder Metaphern von Landschaft denn als Ortsangaben.
- Es sind darin keine spektakulären Motive zu sehen, eher solche, denen man beim Vorbeifahren durch Dörfer oder Felder begegnet: ein Blick aufs Watt, die Konturen eines Hauses in der Abendsonne, geparkte Wohnwagen auf einer Aussichtsplattform. Trotz ihrer teilweise minimalistischen Einfachheit oder gar der Trivialität des Motivs lassen solche Aufnahmen verhalten melancholische, suggestive Stimmungen aufkommen. Sie sind fotografische Skizzen, Entwürfe, Optionen, die M HH den Betrachtern als Ausgangsmaterial für ihre eigenen fiktiven Geschichten anbietet. Fragmente eines Drehhbuchs sind vergrössert zwischen den Porträts zu sehen - so könnte es sein.
- Gleichwohl Teile eines imaginären Ganzen sind diese Bilder trotzdem eigenständige, in sich geschlossene Arbeiten. Wie die Porträts sind auch die Landschaftsbilder und die Eindrücke am Strassenrand in blauer Farbe eingetaucht, der Farbe des Imaginären, des Traumes, der Sehnsucht.
- In Sepia hingegen, in hellbraunen Tönen gehalten, wie eine altmeisterliche Federzeichnung, ist die Küstenlandschaft, die M HH mit der Videokamera aufgenommen hat. Über den Durchgang zum Kino projiziert, ergänzt sie als bewegtes und akustisches Bild die Ausstellung und lässt mit einem andern Medium ähnliche Stimmungen entstehen - das sturmdurchwehte Deichvorland, das Rauschen der Wellen, das Schimmern des Lichtes auf dem unruhigen Wasser: Die Zeit scheint still zu stehen, bis zufällig drei Akteure das Bild betreten, um es nach kurzer Handlung wieder zu verlassen. Ein Gefühl unendlicher Ruhe und unbestimmter Sehnsucht kommt auf.
- Eine weitere Videoarbeit, das Porträt von Hendrike, einer sommersprossigen aparten Jugendlichen, die fürs Casting sozusagen probeweise interviewt wird, ist als Grossprojektion nur heute Abend im Filmsaal zu sehen. Ihr fotografisches Porträt befindet sich aber unter den anderen in der Ausstellung.
- Marikke Heinz-Hoeks Werke, ob Foto- oder Videoarbeiten, schweben auch in diesem Projekt eindrucksvoll zwischen Beobachtung und Beteiligtsein, zwischen Distanziertheit und zarter Berührung. Dass diese beiden Pole immer gleichwertig nebeneinander bestehen, kennzeichnet das dichte, vielschichtige Werk von M HH und verleiht ihm eine Offenheit und gleichzeitig eine Entschiedenheit von Aussage und Form, die in Konsequenz und Poesie ihresgleichen suchen.
- Marikke viel Erfolg mit der Ausstellung und dem Medienzentrum noch viele erfolgreiche Jahre!
- K.V.
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