Marikke Heinz-Hoek - Strategien der Legendenbildung, Kunsthalle Bremen 7.9.2004

Drei Themen in drei Räumen - was hätte da näher gelegen als der Ausstellung den Titel "Drei Legenden" zu geben. Doch Marikke Heinz-Hoek nennt sie "Strategien der Legendenbildung". Dies lässt darauf schließen, dass die Künstlerin den Pfad der einfachen Nacherzählung einer legendären Vorlage verlässt und neuartige Wege beschreitet. Nun klingt der Titel ein wenig nach germanistischer und kunsthistorischer Forschung, und eine solche hat sie selbstverständlich als Basisarbeit auch geleistet, aber sie geht alles in allem intuitiv vor - Strategie und Intuition schließen sich offensichtlich nicht aus. Und das Charakteristische und Außerordentliche der Arbeit von Heinz-Hoek liegt ganz offensichtlich in Folgendem: Sie spürt in der Tat allen nur denkbaren Wegen nach, auf welchen sich Legenden ausbilden können und gebildet haben, sie sammelt und sichtet, sie kombiniert und variiert und - sie verändert. Dies besagt - und das ist das Entscheidende - sie erfindet hinzu, mischt Überliefertes mit Erdachtem, und treibt damit die Legende weiter. Überdies legt sie die Strategien der Legendenbildung offen, und zwar dadurch, dass sie sich derer selbst bedient. Als Künstlerin hat sie das Recht, ihrer Phantasie freien Lauf zu lassen. Sie tritt dadurch den Beweis an, dass auch das Überkommene bereits nicht frei ist von Hinzuerfundenem. Denn Legenden entwickeln sich vorwiegend durch mündliche Vermittlung, wodurch sich stets Selbsterlebtes mit Fremderfahrung mischt. Denken Sie doch nur an das Gesellschaftsspiel "Stille Post". In dem Zusammenhang erweist sich vor allem die Erinnerung nur selten als verlässlich. Und Erinnerung ist nun das übergeordnete Thema, welches Heinz-Hoek seit den 70er Jahren beschäftigt, nicht zuletzt unter der Prämisse, Vergangenes aufzuarbeiten, gelegentlich auch, deutsche Schuld zu bewältigen. Es sei hier etwa an ihr Mahnmal "Irrstern" im ZentralKrankenhaus Bremen-Ost erinnert. Innerhalb dieses umgreifenden Themas Erinnerung verfolgt sie die "Strategien der Legendenbildung" seit Beginn der 90er Jahre, und dies intelligent, mit künstlerischem Geschick, mit Leidenschaft und viel Humor. Sie führt damit die sogenannte 'Spurensicherung', eine besondere Kunstform der 'Individuellen Mythologien' von Anfang der 70er Jahre fort.

Ehe wir auf die Ausstellung näher eingehen, sollen kurz die kulturhistorischen Wurzeln dessen, was man unter Legende versteht, skizziert werden, denn dies spielt für das Verständnis des Werkes eine nicht unwesentliche Rolle. Legende meint ethymologisch das zu Lesende (lat./ital. legere = lesen). Bereits im frühen Mittelalter hatte sich die Sitte herausgebildet, an Festtagen den - wohlgemerkt leseunkundigen Menschen wundersame, zuweilen auch erbauliche Ereignisse aus dem vorbildlichen Leben der Heiligen und Märtyrer vorzutragen. Ja, diese Lesungen festigten deren Rang erst richtig. Die berühmteste Sammlung derartiger Legenden ist die "Legenda Aurea" des Jacobus de Voragine. Letztlich sind die Menschen aber von Alters her für Legenden empfänglich, vorzugsweise für solche, die sich um Naturerscheinungen, wie etwa Blitz oder Feuersbrunst, ranken, um Geschehen also, denen man hilflos ausgeliefert ist. Seit dem späten Mittelalter heften sich dann an die literarischen Zeugnisse auch Umsetzungen ins Bildnerische: unzählige vielteilige Altarbilder erzählen die Viten von Märtyrern und Heiligen. Marikke bedient sich beider Ausdrucksmittel, Wort und Bild, und sie führt das Geschriebene auch zu seinem ursprünglichen Gebrauch als gesprochener Vortrag zurück.

Verständlicherweise hatte die Legende in stabileren Perioden wie Aufklärung und Realismus weniger Konjunktur als in labileren Zeiten, etwa dem Sturm und Drang oder der Frühromantik, in welchen die Menschen der Realität misstrauten und nach übermenschlichen Kräften verlangten. Gerade in heutiger Zeit wächst auf Grund unsicherer Lebensbasis die Hoffnung auf Hilfe von Außermenschlichem. In sofern trifft Heinz-Hoek den Nerv der Zeit. Hier berühren wir bereits eine grundlegende Frage, welche die Künstlerin am Thema Legendenbildung interessiert, es ist das Verhältnis von Wirklichkeit und Fiktion. Eine Legende ist geradezu prädestiniert dazu, diese Ambiguität aufzuzeigen. Als Ursprung muss ein realer Fund als auslösende Kraft wirksam werden, sei es ein angebliches Zeugnis oder ein Ereignis im Leben einer bekannten oder auch unbekannten Person. Ohne jeden realen Bezug könnte die Relation zwischen Wahrheit und Erfindung gar nicht gestellt, geschweige denn gelöst werden. Nur um Existentes scheint sich eine Legende ranken zu können. Allerdings sind in Zeiten virtueller Welten berechtigte Zweifel daran angesagt, ob das Reale tatsächlich existiert oder ob es nicht auch erfunden sein könnte, ganz nach der Behauptung: "truth is stranger than fiction". Daher stelle ich an Marikke die Frage: Könntest Du Dir vorstellen, in Umkehrung Deiner bisherigen Strategie Geschichten zu bilden, die einen erfundenen Kern umspielen? Zu überlegen ist, ob dies überhaupt möglich ist, und wenn ja, ob es Sinn macht.

In dieser Ausstellung jedenfalls sind es drei leibhaftige Persönlichkeiten, um welche Heinz-Hoek uns ihr reichhaltiges Angebot aufgetischt hat. Dabei ordnet sie den drei Räumen sehr geschickt drei Themen zu: Im ersten Raum pilgert man nach Paris, um Anais Nin, begabte Schriftstellerin inmitten intellektueller Gesellschaft, auferstehen zu sehen. Im zweiten Raum gerät man nach Moskau auf die Spuren des genialen Filmregisseurs Andrej Tarkowskij. Im dritten Raum schließlich geht die Reise in die USA, und dort ist Marilyn Monroe der Star. Es handelt sich also um drei berühmte Repräsentanten der Zeitgeschichte, die aus drei verschiedenen Kulturräumen stammen. Eine wesentliche Voraussetzung für das Entstehen einer Legende ist es gerade, dass sie als gemeinschaftliche Kulturleistung begriffen wird. Alle drei Protagonisten leben nicht mehr; daraus ergibt sich, dass die Perspektive derer, die sich mit ihnen beschäftigen, zunächst einmal rückwärts in die Vergangenheit gerichtet ist. In diesem Sinne hebt Marikke die Passage in Nins Tagebuch hervor, wo diese über Henry Miller urteilt: "Er hat zuviel, woran er sich erinnern muss, und sein einziges Vergnügen besteht darin, es neu zu erschaffen. Es gibt Menschen, denen ihre Vergangenheit hilft, die Gegenwart zu erleuchten, bereichert in die Gegenwart zu münden mit Schätzen beladen, aber nach neuen noch gierig". Zitat Ende. Allein diese Gedanken zeigen, dass Anais Nin selbst nicht nur Opfer sondern auch Akteurin im Bilden von Legenden gewesen ist. Erinnerung ist als Fundus, als Quelle verstanden, aber diese gibt gleichzeitig den Anstoß, den Humus in die Zukunft gerichtet weiter anzureichern, mit Geschichten und Gerüchten, mit Wahrem und Getürktem.

Folgen wir den Strategien von Heinz-Hoek genauer:

Das geeignete Futter liefern für die phantasiebegabte und gesellschaftspolitisch engagierte Künstlerin naturgemäß solche Figuren, denen etwas Abenteuerliches, Sagenumwobenes, Unergründliches oder auch Vorbildliches anhaftet. Inspirationsquelle kann eine Lektüre sein oder ein Fundstück, ein ungewöhnlicher Gegenstand und auch ein Foto. Vielleicht hat sogar nur dessen eigentümliche Färbung oder Trübung ihre Neugier geweckt. Jedenfalls hat man, um mit Anais Nin zu sprechen, Zitat: "das seltsame Gefühl, Zeuge der Geburt eines Gedankens, einer Empfindung zu werden." Und weiter "der Gedanke muss umzingelt werden, ausspioniert, eingefangen wie etwas sehr Flüchtiges" Zitat Ende. Die Erinnerung erweist sich als unergründlich und mannigfaltige Fäden verweben sich zu einem Geflecht. Heinz-Hoek erschafft aus der Mischung von Anmutungen, Assoziationen und zielgerichteten Maßnahmen Realem gegenüber ein Porträt. Um ein solches erstehen zu lassen, verwendet sie die unterschiedlichsten Medien. Sie arbeitet mit Video und Foto, sie benutzt Ready-mades und literarische Zeugnisse als angebliches Dokumentationsmaterial, und sie dichtet selbst. In den seltensten Fällen ist das Material authentisch, vielmehr sind sogar die nachweisbar originalen Dinge bereits verändert, manipuliert, aufpoliert. Dies geschieht nicht nur aus einem lustvollen Schöpferdrang heraus, sondern auch, um das Heterogene auf einen Grundtenor zu bringen, in welchem jedes Detail seinen bedeutsamen Part innerhalb einer persönlich wie überpersönlich gefärbten Darbietung scheinbarer Realität spielt. Jede Legende bedarf einer unverwechselbaren Atmosphäre, einer gewissen Aura, die sich gerade aus der Begegnung von zeit- und örtlich Auseinanderliegendem und inhaltlich Heterogenem aufbaut. Fruchtbar ergänzen sich die Aussagen unterschiedlicher Medien, erholsam die Kombination von Dreidimensionalem mit Virtuellem, und es kommt zum geistreichen Dialog zwischen ernsten und humorvollen Exponaten, zwischen High and Low.

So finden sich zu Anais Nin in den Vitrinen edel nostalgisch anmutende Gegenstände, die das Pariser Klima der 20er Jahre beschwören können, etwa ein Türknauf, ein Ohrgehänge, eine vergoldete Teetasse, florale Muster, Fotoalben und als eigentlicher Angelpunkt ein Ausschnitt der berühmten Tagebücher. Doch gerade auch diesen zeigt sie nicht im Original sondern als Rückübersetzung aus dem Deutschen ins Französische, eine Methode, die sie übrigens auch bei Tarkowskij anwendet. Die Textfassung birgt somit eine gewisse sprachliche und möglicherweise auch inhaltliche Verschiebung in sich und sie wirft Fragen auf wie diese: Wie wahrheitsgetreu ist eine Übersetzung, wie verantwortlich gehen heutzutage Dolmetscher vor, welcher Stellenwert kommt der individuellen Formulierung zu, und dies meint letztlich: wie weit ist die Welt ein Bild subjektiver Interpretation und Projektion.

Fotoreihen und thematisch einfallsreiche Videos legen Zeugnis ab von Heinz-Hoeks versiertem und eigenwilligem Umgang mit den Medien. So vervielfältigt sie Fotos, verändert ihre Größe, zerdehnt oder rafft das Zeitmaß von Videos, auch tauscht sie spezifische Qualitäten einzelner Medien untereinander aus und sie arbeitet intensiv mit der Abstimmung zwischen Bild und Ton sowie mit dem Kolorit. Gerade Farbe und deren präzisierende Reduktion oder historisierende Verwischung setzt Heinz-Hoek als Stimmungsträger ein. Dominiert im Pariser Raum das Blau, in blaustichig distanzierenden Fotos ebenso wie in dem verlebendigenden gefilmten Foto von Anais Nin, so überwiegt im russischen Raum das nicht nur für die Filme Tarkowskijs so typische Goldbraun. Bei dem goldgetönten Knabenbildnis könnte es sich um ein Foto des mutigen Jungen in "Iwans Kindheit" von 1962 handeln. Aber ist dies so entscheidend, um den Film in uns lebendig werden, eine Vorstellung Russlands erstehen zu lassen? Obgleich das Vertrauen in die Authentizität der Bilder längst erloschen ist, - man denke vor allem an jene von Kriegsschauplätzen - glauben wir dennoch allzu leicht an deren Wahrheit und Magie. Und wir vertrauen ebenso auch den Worten. So folgen wir gerne den in Russisch vorgetragenen Ausführungen von Marikkes Kollegin Eugenia Gortchakova, denn die Erzählerin verkörpert schon allein in ihrer Mimik, Artikulation und warmherzig-klugen Ausstrahlung viel von russischer Seele. Wenn Heinz-Hoek diesen Raum mit "Russische Totale" überschreibt, so lässt der Titel neben der Assoziation an Totalitarismus natürlich an die unendliche Weite des Landes denken. Und er entspricht der selbstkritischen Einsicht, dass das Ganze eben nicht zu fassen ist. Mir kommt vergleichsweise der geistreiche, selbstironische Titel einer vielteiligen Skulpturengruppe von Fischli & Weiss in den Sinn, der da lautet "Plötzlich diese Übersicht". Der im Videovortrag wiederholt vorgetragene Satz von James Joyce "shut your eyes and see" könnte als Marikkes Strategie eines inneren Einfühlens in ein Thema gewertet sein, das sie an die Betrachter weiterreicht, damit jeder anhand des Dargebotenen mit eigenem aktiven, inneren Sehen die Legende weiterspinnen kann.


Mit ihren Recherchen schreibt Heinz-Hoek ein wenig Geschichte von unten; diese Perspektive ergibt sich nicht zuletzt dadurch, dass sie besonderen Nachdruck auf gemeinhin vernachlässigte Schauplätze und Details legt. Sie geht mit dieser Strategie gegen das klischeehaft Bekannte von Legenden an. Dies kommt besonders bei Marilyn Monroe zur Entfaltung, deren Legende sich bekanntlich bereits zu Lebzeiten formte und nach ihrem spektakulären Tod erst richtig hochkochte. Wer weiß schon ihren wahren Namen Norma Jean Baker, und wer hat je das Augenmerk auf die Hände des Stars gelenkt und einen Knopf ihrer Bluse in Augenschein genommen. Kopien der originalen Autopsieprotokolle liegen neben Marikkes köstlicher Erfindung eines Bremen-Besuchs von Marilyn. Über diesem gesamten Raum schwebt die frühlingsrosa gefärbte, leicht melancholische Atmosphäre aus der kurzen Tanzsequenz "Last Rondo" des Films "The Misfits" von 1961. Die überlieferten Stories um Marilyn und Heinz-Hoeks hinzu Erfundenes beweisen deutlich, dass eine Legende dadurch entsteht, wachgehalten und fortgeschrieben wird, indem die Person als Projektionsfläche dient. Auch für die Künstlerin nehmen die Figuren diese stellvertretende Funktion ein. Und damit kommen wir abschließend auf die eingangs erwähnte Nähe zu den Künstlern der Individuellen Mythologien und Spurensicherung zurück. Im Gegensatz etwa zu Christian Boltanski, zu Nikolaus Lang oder auch zu den Poiriers betont Heinz-Hoek ausdrücklich das Individuelle, das nicht Austauschbare, das Originäre einer Person. Erinnerung arbeitet gegen das Vergessen, und Erinnern nimmt die Endlichkeit und den Tod ins Visier. Anais Nins Worte könnten auch von Marikke Heinz-Hoek stammen, wenn es da heißt: "Manchmal weine ich über die Vergänglichkeit, aber dann ist es wieder kein Tod gewesen, sondern nur eine immer weiter andauernde Kontinuität. Nichts ist verloren, es ist nur verwandelt."

Renate Puvogel